Heute möchte sich gerne Lina zu
Wort melden. Vielleicht kennt ihr sie bereits aus dem Buch „Lina –
Hoffnung auf Leben“, vielleicht lernt ihr sie nun kennen.
Viel Spaß mit ihr!
Viel Spaß mit ihr!
(Lina räuspert sich leise.)
Hallo meine Lieben, wie schön, dass
ihr es auf Reas Blog geschafft habt. Ich bin tatsächlich die Erste,
die diese neue Rubrik einweihen darf, und ehrlich gesagt macht mich
das ein bisschen nervös.
Vielleicht wissen manche von euch ja
schon, dass ich ein turbulentes Jahr hinter mir habe. Ich gehöre
wohl zu dem Typ Mensch, von dem die meisten denken: „Gott sei Dank
geht es mir nicht so wie ihr“. Ich habe einiges an Mist mitgemacht
und sicherlich nicht immer nachvollziehbar gehandelt. Wenn ich jetzt
so zurückdenke, frage ich mich auch immer und immer wieder, warum
ich nicht dieses und jenes anders gemacht habe, warum ich mich nicht
gewehrt, mir nicht schon eher Hilfe geholt habe.
Ich kann es im Nachhinein gar nicht so
genau sagen, kann aber versuchen, euch mein Verhalten zu erklären.
Wenn man schon im frühesten Alter mit
derart unbegreiflichen, schrecklichen Dingen konfrontiert wird, gibt
es nur wenige Optionen. Entweder man dreht durch und zerbricht
vollkommen daran, oder man versucht irgendwie, das Ganze zu
adaptieren. Im Hinterkopf weiß man ganz genau, dass es einfach nicht
richtig ist, wenn sich der Stiefvater zu einem ins Bett legt – aber
man ist so jung. Man muss sich schlimme Dinge anhören, dann wieder
liebe Worte, und immer wieder wird gesagt, dass es normal ist.
Dennoch fühlt man diese tiefe Scham und dieses diffuse Wissen, dass
es ganz und gar nicht normal ist – doch was soll man tun? Man ist
klein, jung, hilflos, alleine gelassen.
Ich wollte nicht zerbrechen, ich wollte
nicht durchdrehen.
Heute weiß ich, dass ich dadurch die
Katastrophe nur verzögert habe. Kein Mensch kann all das
durchstehen, ohne Schaden davonzutragen. All die Scham in mir hat
dazu geführt, dass ich die schrecklichen Erlebnisse so gut es ging
vor allen anderen versteckte. Bis heute frage ich mich, wieso andere
Menschen nicht schon eher etwas bemerkt haben. Nicht, dass ich es
darauf angelegt habe. Es ist wohl ein deutliches Zeichen dafür, dass
vieles im Verborgenen geschehen kann, wenn man es nur will. Und
wieso? Themen wie sexueller Missbrauch in der eigenen Familie sind
derart grotesk, dass man einfach nicht daran glauben möchte. Und
wenn man an etwas nicht glauben möchte, dann nimmt man die Anzeichen
auch nicht so schnell wahr. Das ist ganz sicher kein Vorwurf, sondern
einfach nur eine traurige Tatsache. Eine traurige Tatsache, die mir
gleichzeitig in die Karten spielte – denn ich wollte es ja alles
verstecken – und mir fast das Genick brach, denn ich hätte viel
früher aus diesem Teufelskreis ausbrechen müssen.
Ich kann froh sein, dass Eric
schließlich in mein Leben trat, auch wenn ich darüber erst gar
nicht begeistert war. All die Jahre hatte ich daran gearbeitet, nicht
zu viel von mir preiszugeben, sodass ich fast jeden Menschen von mir
gestoßen hatte. Sich plötzlich wieder mit jemandem
auseinandersetzen zu müssen war demnach ein großer … Schock für
mich.
Aber Eric ließ nicht locker. Er nervte
mich so lange, bis ich ihn nicht mehr auf Abstand halten konnte. Zu
dem Zeitpunkt war ich so kurz davor, vor Einsamkeit und unter der
Last meiner Erlebnisse zusammenzubrechen. Er kam genau richtig. Er
musste einfach nur die richtigen Worte zur richtigen Zeit sprechen
und schon fing meine Mauer an, zu bröckeln. Das, was er dann zu
sehen bekam, entsprach sicherlich nicht seinen Erwartungen – aber
er blieb dennoch. Ich kann meine Dankbarkeit nicht in Worte fassen.
Dank ihm schaffe ich es endlich, normale Erfahrungen sammeln zu
können, all das ohne die allzeit vorhandene Angst der vergangenen
Jahre.
Ich bin mir sicher, dass es viele
Menschen dort draußen gibt, denen es genauso ergeht oder erging wie
mir. Sehr viel mehr Menschen, als man glauben möchte. Ich weiß,
dass ich viele Jahre Fehler begangen habe – weil ich es nicht
besser wusste. Ich hätte jemanden gebrauchen können, der mir sagt,
dass ich nicht alleine bin mit diesem Unrecht, dass es ganz und gar
nicht in Ordnung ist und dass ich mich wehren muss. Hätte ich ein
Vorbild gehabt – wer weiß, wie dann alles ausgegangen wäre.
Auch wenn es mich zutiefst in der Seele
schmerzt: Ich möchte ein solches Vorbild für andere sein. Ich
möchte euch zeigen, dass es einen Ausweg gibt, dass man ihn nur
finden muss. Und ich möchte, dass euch allen bewusst wird: nicht wir
sind diejenigen, die schuld sind an diesem Unrecht. Wir sind jung in
eine schlimme Situation geraten, auf die wir keinen Einfluss haben.
Unsere Peiniger sind schuld, nur sie, und sie verdienen die größte
Strafe überhaupt. Aber dafür müssen wir uns wehren und aus diesem
Teufelskreis ausbrechen.
Ich wünsche mir
so sehr, dass andere den Mut finden, aus diesem Gefängnis zu
entkommen. Ich wünsche euch einen Eric, so wie er mich ereilt hat,
und falls es ihn doch nicht gibt – dann genug Kraft, um alleine
daraus zu kommen.
Sollte ich euch helfen können, dann
lasst es mich wissen.
Ich werde nun an meiner Zukunft
arbeiten. Wie? Das könnt ihr ab März genauer nachlesen. Hoffentlich
hilft es euch irgendwie weiter.
Einen letzten Appell habe ich noch an
Nicht-Betroffene: Verschließt eure Augen nicht; gerade das Schlimme
ist meist nur an kleinen subtilen Zeichen zu erkennen.
Danke für euer Zuhören/Lesen.
Eure Lina